Geraubte Zukunft – Kinderarbeit in Deutschland im 19. Jahrhundert

Abb. 1: Ein achtjähriges Mädchen arbeitet am Kalkofen. Maladi, Wuhai, Innere Mongolei, September 2010. Lu Guang © Contact Press Images.

Kinder stellen die Zukunft einer jeden Gesellschaft dar, doch sie sind zugleich eine der vulnerabelsten Gruppen in ihnen. So muss auch das hier abgebildete achtjährige Mädchen gemeinsam mit ihrer Mutter für eine Kalkbrennerei arbeiten. Eine Wahl wird sie nicht gehabt haben.

 

Die bei der Arbeit freigesetzten Schadstoffe, Gase und der Feinstaub schaden jeder dort arbeitenden Person, wie auch der Umwelt. Die sich noch entwickelnden Körper von Kindern reagieren besonders empfindlich auf den Kontakt mit gesundheitsgefährdenden Stoffen und Emissionen. Die Arbeit stiehlt dem Mädchen somit nicht nur seine Kindheit, sondern bedroht auch seine Zukunft. Während in der westlichen Welt solche Zustände heute der Vergangenheit angehören, gehört Kinderarbeit, insbesondere in aufstrebenden Schwellenländern, weiterhin zum Alltag.

 

Aufgrund des menschlichen Einflusses auf die Umwelt, der schließlich auch den Klimawandel antreibt, diskutieren Wissenschaftler darüber, ein neues geologisches Erdzeitalter festzuschreiben, denn der Mensch ist zu einem geologisch prägenden Faktor für den Planeten Erde geworden. Sie nennen dieses Zeitalter das Anthropozän (Zeitalter des Menschen). Als kritische Weiterentwicklung des Anthropozäns hat Jason M. Moore das Konzept des Kapitalozäns (Zeitalter des Kapitals) geprägt. Im Kapitalozän steht nicht ein abstraktes und universelles Verständnis vom Menschen als Verursacher der aktuellen Klima- und Umweltproblematik im Mittelpunkt, sondern das kapitalistische Wirtschaftssystem, denn mit dessen Aufkommen ging eine Neukonzeptionalisierung von Natur und Arbeit einher. Moore argumentiert, dass erst die Nutzbarmachung jeder verfügbaren Ressource zur Vermehrung von Kapital dazu geführt habe, dass durch menschliches Handeln Klima, Natur und Landschaft unseres Planeten beeinflusst werden (vgl. Moore 2016).

 

Während heutzutage, zumindest in den wohlhabenderen Teilen des globalen Nordens, Kindern der größtmögliche Schutz zu Teil werden soll, waren sie in der Vormoderne sowie auch während der Industrialisierung eine wichtige Arbeitskraft. Im Zuge der industriellen Mechanisierung von Arbeitsprozessen während des 18. und 19. Jahrhunderts wurde die Arbeit in verschiedene Prozesse zerlegt. Dadurch war der Einsatz von Kindern als Hilfskräfte auch in Fabriken ökonomisch rentabel geworden (Feldenkirchen 1981, S. 1 f.). Bei der Ausgestaltung ihrer Arbeit wurde dort kaum Rücksicht auf ihr Alter genommen. Die Bezahlung betrug nur einen Bruchteil des Gehaltes von Erwachsenen und die Schichten dauerten bis zu 13 Stunden lang. Für Schulbildung blieb wenig, bis gar keine Zeit übrig. Die Gesundheit der Kinder litt in den Fabriken so stark, dass in den industrialisierten Regionen der preußischen Rheinprovinz die Mortalität von Kindern mehr als doppelt so hoch war, wie in den ländlich geprägten Regionen (Kastner 2004, 28). Die Fabrikanten sahen in der Beschäftigung hingegen noch einen Akt der Humanität, da sie „vielen armen Leuten und Kindern […], die sonst kein Brot haben und also der hiesigen Stadt-Almosen-Kasse zur Last fielen, ihr Brot geben“ (StA. Dresden, Kommierzdep. Loc 11 115, Bl. 13 B, zitiert nach: Lange 1978, 33), so ein sächsischer Druckereibesitzer 1792. Billige Arbeitskraft (Cheap Labor), zu der zweifelsohne auch Kinderarbeit gehört, ist nach Moore ein zentrales Element, auf dem das Kapitalozän beruht.

 

In Preußen beschäftigten sich Regierungskreise seit Beginn des 19. Jahrhunderts mit dem Problem der Kinderarbeit, weil die vorherrschenden Arbeitsbedingungen mit ihren humanistischen Wertvorstellungen nicht vereinbar waren. Dabei richtete sich ihre Aufmerksamkeit zunächst nur auf Kinderarbeit in Fabriken, Hütten- und Bergwerken. Doch bis Maßnahmen gegen sie verabschiedet und auch effektiv durchgesetzt werden konnten, dauerte es noch Jahrzehnte. Weil liberale Kräfte Auflagen für die Wirtschaft blockierten, versuchte die Regierung 1825 die Kinder durch eine allgemeine Schulpflicht aus den Fabriken zu holen. Die dafür benötigten Schulen mussten allerdings erst einmal eingerichtet und finanziert werden. Gleichzeitig wollten die Behörden die Unternehmer schützen, aus Angst davor, dass sie ohne billige Kinderarbeit von der ausländischen Konkurrenz abgehängt werden könnten. Ein weiterer Grund, der die Durchsetzung verhinderte, war der Schutz der Familien. Was auf den ersten Blick paradox erscheint, erklärt sich dadurch, dass die in der Proletarisierung entstandene Schicht der meist verarmten Arbeiterklasse, gezwungen war, auch ihre Kinder in Arbeit zu bringen, damit das Überleben der Familie gesichert werden konnte (Kastner 2004, 35-40). Denn ohne Sozialsystem war die Kinderarbeit ein unschönes, aber effektives Mittel zur Abwendung einer Massenverelendung. 1839 konnte ein dezidiertes Gesetz zum Schutz von arbeitenden Kindern verabschiedet werden, welches jedoch erst durch seine Überarbeitung 1853 für substanzielle Verbesserungen in den preußischen Fabriken sorgte (Kastner 2004, 45; 177 f.). Es wurde ein Mindestalter von neun (1839) bzw. zwölf (1853) Jahren und eine maximale Arbeitszeit von zehn Stunden bzw. neun Stunden festgelegt, außerdem durften Kinder erst beschäftigt werden, wenn sie bereits über ein Mindestmaß an Schulbildung verfügten oder diese parallel in einer Fabrikschule erhielten. Damit wurde in Preußen zumindest partiell eine Kinderarbeitsregulierung etabliert, welche in den folgenden Jahrzehnten schrittweise ausgebaut wurde.

Doch trotz dieser gesetzlichen Regulierungen ist Kinderarbeit noch lange kein Thema, das in Deutschland der Vergangenheit angehört. Indirekt stellt sich das Problem weiterhin im Kontext eines globalen Wirtschaftssystems. Auch international tätige Großunternehmen mit Sitz in Deutschland sowie auch die Endverbraucher profitieren davon, dass die Ausbeutung durch Kinderarbeit im globalen Süden weiterhin stattfindet und sogar ansteigt.

Literatur

Feldenkirchen, Wilfried: Kinderarbeit im 19. Jahrhundert: Ihre wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte Jg. 26, Nr. 1 (1981), S. 1-41.

 

 

Heywood, Colin: Childhood in Modern Europe, Cambridge: Cambridge University Press, 2018.

 

 

Kastner, Dieter: Kinderarbeit im Rheinland: Entstehung und Wirkung des ersten preußischen Gesetzes gegen die Arbeit von Kindern in Fabriken von 1839 (Kölner Schriften zu Geschichte und Kultur, 27), Köln, 2004.

 

 

Lange, Siegfried: Zur Bildungssituation der Proletarierkinder im 19. Jahrhundert: Kinderarbeit und Armenschulwesen in der sächsischen Elbestadt Pirna (Monumenta Paedagogica, 18: Reihe B, Bildungspolitische und pädagogische Bestrebungen der Arbeiterbewegung bis 1945), [Ost-]Berlin: Volk und Wissen, 1978.

 

 

Moore, Jason W.: The Rise of Cheap Nature, in: Ders. (Hg.), Anthropocene or Capitalocene? Nature, History, and the Crisis of Capitalism, PM Press: Oakland, 2016, S. 78-115.

 

 

Stockmann, Annette: Fabrikkinder in Cromford: Ein Beispiel für Kinderarbeit in der Frühzeit der Industrialisierung (Kleine Reihe / Rheinisches Industriemuseum, 5), Köln, 1989.

Autor

Hendrik Gerling studiert Public History im Master of Arts an der Ruhr-Universität Bochum.

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