Im Endspiel mit der Natur

Abb. 1: Stadion in der Nähe eines Stahlwerks in Handan, Provinz Hebei, November 2017. Lu Guang © Contact Press Images.

Ein grauer Schleier überzieht die roten Sitzreihen eines Stadions in Handan. Anhand der Fotografie Lu Guangs wird deutlich, dass es sich bei dem grauen Schleier um Ruß oder Asche aus einem nahe gelegenen Stahlwerk handelt. Durch die auffällig rote Farbe der Stühle ist der Ruß deutlich zu erkennen und sticht geradezu ins Auge. Beim Anblick des Bildes kann die Frage aufkommen, wie es sich wohl anfühlt, unter diesen Umständen Sport zu treiben, oder wie es wohl in den Lungen der Menschen aussieht?

 

Die Praktiken der Gewinnung und Verarbeitung von Rohstoffen haben Effekte auf die Natur und ihnen liegt eine Ausbeutung der Natur zugrunde. Gerade für den Bergbau ist die Natur ein endliches, aber gewinnbringendes Rohstofflager. Die Menschen sind in diesen industriellen Prozessen zum einen als Protagonist*innen aktiv, indem sie Rohstoffe abbauen. Zum anderen sind auch diejenigen, die sich in den Zuschauer*innenrängen aufhalten und nicht aktiv in der Rohstoffindustrie tätig sind, über ihren Konsum von Gütern in das System eingebunden. Wie in einem Fussballstadion kann der Mensch das Spiel verfolgen, ohne aktiv teilzunehmen, jedoch unterstützt er den Verein durch den Erwerb eines Tickets. Im Spiel gegen die Natur liessen sich die unzähligen Tickets für unterschiedlichste Ränge gar nicht mehr zählen.

 

Der Beginn der menschlichen Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen wird oftmals auf 1759 datiert: Das Jahr, in dem James Watt das Patent für seine Dampfmaschine erteilt wurde. Fossile Brennstoffe wurden jedoch bereits lange davor genutzt und auch Watts Dampfmaschine baute auf Vorgängermodellen auf. Jedoch war die Effizienz seiner Maschine ausschlaggebend für einen exorbitanten Anstieg des Verbrauchs an fossilen Brennstoffen. Die dampfbetriebene „Spinning Jenny“, die Baumwolle maschinell zu Garn verarbeitete, erhöhte die Produktionszeit von Kleidung um ein Vielfaches, wodurch im Umkehrschluss mehr Produkte in der gleichen Zeit produziert werden konnten.

 

Die Erfindung brachte für bestimmte Arbeitsprozesse eine Erleichterung, da die zuvor verrichtete Schwerstarbeit nun teilweise von der Dampfmaschine übernommen werden konnte. Doch wer die mit der Industrialisierung einhergehenden Arbeitsprozesse als eine Transformation von körperlicher Arbeit zu mechanisierter Arbeit begreift, vergisst, dass die mit der Industrialisierung verbundenen technologischen Innovationen auf körperlicher Schwerstarbeit und Sklaverei fußten. Die Baumwolle, die von der „Spinning Jenny“ zu Garn verarbeitet wurde, stammte größtenteils von Plantagen aus den USA, in denen Tausende von Sklaven schufteten. Neben den USA kam auch ein großer Anteil von Baumwolle aus Plantagen Westafrikas, die von Sklavenbesitzern betrieben wurden. Die industrielle Revolution fußte somit nicht nur auf technologischen Innovationen, sondern in gleichem Maße auf der Ausbeutung von Arbeitskraft. In ihrer Folge wurden ganze Städte in dichten Smog gehüllt und Landschaften für den großflächigen Anbau von Baumwolle zerstört. Der Ruß, der sich auf den roten Sitzreihen der Fotografie Lu Guangs abbildet, verdeutlicht zwar industrielle Produktionsbedingungen 200 Jahre nach der industriellen Revolution Europas, doch auch in diesem Schleier materialisiert sich sowohl Innovation als auch Ausbeutung von Arbeitskraft, Zerstörung und Verunreinigung von Landschaften.   

 

Der Anblick der verdreckten Sitzreihen und das imaginierte Treiben im Stadion könnte als eine Metapher für die Beziehung zwischen dem Menschen und technischer Innovation auf der einen und Natur auf der anderen Seite verstanden werden. Dabei steht das stattfindende Spiel für alle Vorteile und Errungenschaften, die mit technologischer Innovation verbunden sind. Dazu zählen beispielsweise Autos, das Reisen in ferne Länder und zahlreiche Konsumartikel. Jedoch funktioniert das Spiel nur reibungslos, wenn im Hintergrund alle Prozesse, von der Herstellung bis zur pünktlichen Lieferung von Waren, kontinuierlich ablaufen. Von den zahlreichen Vorgängen im Hintergrund kriegen die Zuschauer wenig bis gar nichts mit. Erst ein Blick hinter die Spielkulisse zeigt, dass zahlreiche Menschen unter teils schlimmsten Bedingungen arbeiten müssen, nur damit wir die Errungenschaften bzw. das Spiel genießen können. Breiter gefasst können die Prozesse im Hintergrund auch als Effekte verstanden werden, die den Lebensstandard beeinträchtigen, beispielsweise durch die Zerstörung der Umwelt durch zahlreiches Reisen, menschenunwürdige Arbeitsbedingungen bei der Gewinnung von Rohstoffen, die wir für Smartphones und Computer benötigen.

 

All diese im Hintergrund ablaufenden Prozesse nehmen wir unbewusst oder auch bewusst in Kauf, um zum Beispiel die Fußballweltmeisterschaft in Qatar 2022 zu verfolgen. Dabei ist uns bekannt, dass dafür zahlreiche Stadien unter unwürdigen Arbeitsbedingungen errichtet werden mussten. Selbstverständlich gibt es zahlreiche Stimmen, die die Schattenseite der industriellen Errungenschaften adressieren und kritisieren, jedoch sind dies teilweise dieselben Menschen, die die Fußballteams bei der WM in Qatar entweder vor Ort, im Public Viewing oder vor dem heimischen Bildschirm bejubeln und damit das System weiterhin unterstützen. Folglich liegt es an uns allen, wie wir im Endspiel gegen die Natur spielen, denn unabhängig wo auf der Erde Verschmutzung und Ausbeutung zu beobachten ist, hat dies direkt „auch etwas mit uns zu tun“.

Literatur

Derenoncourt, Ellora: Atlantic slavery’s impact on European and British economic development, Havard 2018.

 

Eltis, David; Engerman, Stanley L.: The Importance of Slavery and the Slave Trade to Industrializing Britain, in: The Journal of Economic History 60/1 (2000), S. 123-144.

 

Goddar, Jeannette: Eine Inventur des fossilen Zeitalters. 10. März 2020. URL: https://www.mpg.de/14556308/eine-inventur-des-fossilen-zeitalters. Zugriff am 17.2.2022.

 

Harley, Knick: Slavery. The British Atlantic Economy and Industrial Revolution, in: Discussion Papers in Economic and Social History 113 (2013), S. 1-38.

 

Hornborg, Alf: Global Magic. Technologies of Appropriation from Ancient Rome to Wall Street, New York 2016.

 

Morgen, Kennet: Slavery. Atlantic Tradeand the British Economy, 1660-1800, Cambridge 2000.

 

Inikori, Joseph E.: Africans and the Industrial Revolution in England. A Study in International Trade and Economic Development, Cambridge 2002.

Autor

Rushan Rechid sudiert Geschichte und Anglistik/Amerikanistik im Bachelor of Arts an der Ruhr-Universität Bochum.

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